Die amerikanische Automobilindustrie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zum Motor einer noch jungen Technologie, die sich rasend schnell entwickelte. Massenfertigung und Massenmotorisierung wurden hier erfunden. Ein neuer moderner Lebensstil, zu dem jetzt auch ein eigenes Auto gehörte, bildete sich bereits in den 20er-Jahren, weit früher als im kriegsgeschwächten Europa. Nirgendwo sonst auf der Welt lockten solche Absatzmöglichkeiten wie in den USA. Auch bei Rolls-Royce erkannte man früh die Chancen.
Mit der Einführung des Einheitsmodells Silver Ghost stieg auch in den Vereinigten Staaten die Nachfrage nach Rolls-Royce Automobilen. So entschloss sich die Unternehmensführung nach dem Ersten Weltkrieg, ein zweites Werk in den USA zu errichten, um die hohen Importzölle (bis zu 33 %) und Transportkosten vermeiden zu können.
Pioniere in New England.
Springfield im Bundesstaat Massachusetts bot beste Voraussetzungen. Maschinen und ein anfangs aus 53 Mitarbeitern bestehendes Fachpersonal brachte man aus England mit. Produziert werden sollte natürlich der 40/50 hp Silver Ghost, traditionell als Fahrgestell mit Motor, um dann ganz nach Kundenwunsch von einem Stellmacher karossiert zu werden. Am 18. Februar 1921 holte der Fabrikbesitzer Wallace Potter das erste in den USA gefertigte Rolls-Royce Automobil in Springfield ab. Er steuerte das unverkleidete Fahrgestell eigenhändig (!) zur Merrimac Body Company ein paar Meilen entfernt, in England wäre das undenkbar gewesen.
„Let’s beat Derby!“
Die Geschäfte entwickelten sich gut. Die amerikanische Rolls-Royce Dependance glühte vor Ehrgeiz, das Heimatwerk qualitativ noch zu übertreffen, Motto: „Let’s beat Derby!“. Dieser unbedingte Wille zur absoluten Perfektion trieb allerdings auch die Kosten. Trotz des Wegfalls der Importsteuern wurde Rolls-Royce zum mit Abstand teuersten Automobil des gesamten amerikanischen Marktes.
Zuerst waren amerikanische Rolls-Royce mit jenen in ihrem Heimatland praktisch identisch. Optisch erkannte man sie leicht an den zylinderförmigen Scheinwerfern, die es nur hier gab. Doch amerikanische Fahrer steuerten gewöhnlich auf der linken Seite, schalteten in Wagenmitte. Rolls-Royce Fahrer wechselten die Gänge zwar auch mit der rechten Hand, doch saßen sie schon wegen dem Linksverkehr in England rechts und der Ganghebel lag außen über dem Trittbrett. Dazu bevorzugten amerikanische Käufer komplette Autos, die keinen Gang zum Stellmacher mehr erforderten.
Rolls-Royce reagierte, verlegte den Fahrerplatz nach links, die Schaltung in die Mitte und bot ab 1923 sogar Komplettfahrzeuge an. Sie wurden in einer eigens dafür geschaffenen, neu eingerichteten Fertigungshalle montiert und erhielten klangvolle Namen wie „Pall Mall“, „Pickwick“ oder „Oxford“. Sie kamen gut an und lagen preislich sogar günstiger. 1926 kaufte Rolls-Royce den New Yorker Karosseriehersteller Brewster & Co, der bereits viele Kunden beliefert hatte. Im besten Verkaufsjahr 1928 wurden 400 Fahrzeuge gebaut, sonst entstanden im Durchschnitt meist um 300 pro Jahr.
Schwarzer Freitag und eine große Krise.
Ende der 20er-Jahre geriet die gesamte Weltwirtschaft ins Rutschen, der Börsencrash an der Wall Street und seine dramatischen Folgen trieb große Teile der Bevölkerung in den Ruin. Der Markt für luxuriöse Fahrzeuge kam fast zum Erliegen. Auch die Autoproduktion im Stammwerk in England kämpfte ums Überleben. 1930 wurden in Springfield nur noch 100 Fahrzeuge gebaut, 1931 wurde die Produktion gestoppt. 1934 wurde der Name der Firma geändert und Rolls-Royce in Amerika war Geschichte. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren waren 2.994 Rolls-Royce der Typen Silver Ghost und Phantom I mit dem Siegel „Made in USA“ entstanden.
Handwerkskunst und Massenware.
Arthur Soutter war Teilhaber des amerikanischen Unternehmens Rolls-Royce und analysierte das letztendliche Scheitern sehr präzise. Natürlich waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zuletzt extrem schlecht, doch er führte das Scheitern auch auf den besonderen Charakter seines Volkes zurück. Ein Rolls-Royce war so durch und durch britisch wie der Union Jack oder der Five O’Clock Tea, handwerklich von höchster Güte, doch stets konservativ und eher zurückhaltend. Das Amerika der 20er- und 30er-Jahre gierte aber bereits nach Massenware und schneller modischer Abwechslung.
Genau das aber konnte und wollte ein Rolls-Royce niemals sein.